Ein Jahr „Wildrausch“: Sylvias Wildblumen-Balkon
Lieblingssitzplatz, Wildbienenkita, Eichhörnchenausguck – all das ist die Loggia von Sylvia Meise im Frankfurter Süden. Seit letztem Frühling sind im 5. Stock die Wildpflanzen eingezogen und mit ihnen Wildbienen, Falter und mehr.
Sylvia Meise ist freie Journalistin und Blog-Autorin und hat im vergangenen Jahr für die Zeitschrift „Schrot und Korn“ über naturnahes Gärtnern berichtet. Die Recherche hat so viel Spaß gemacht, dass sie Lust bekommen hat, auf Ihrem Balkon selbst loszulegen. Vergangenes Jahr im März hat sie unsere Saatguttütchen gesät und was sie beim Warten auf die ersten kleinen Wildpflanzen alles gelernt und beobachtet hat, macht Lust, selbst zu Blumenkasten und Gartenschaufel zu greifen.
Sylvia auf ihrem Balkon
Hier kommt Sylvias Bericht:
Richtig los ging es letztes Jahr im März. Nachdem die Artikel zum Thema naturnahes Gärtnern geschrieben waren, lagen auf meinem Schreibtisch noch Pflanzenlisten, Bücher mit vielen tollen Anregungen und sogar Samentütchen vom Wildpflanzenprojekt „Tausende Gärten - Tausende Arten“ (TGTA). Höchste Zeit, aktiv zu werden, und selbst in der Erde zu wühlen!
Ganz einfach: Aussäen und warten Für das Startsubstrat mischte ich torffreie Bio-Erde mit Sand im Verhältnis 1:1, streuselte eine Prise Samen drauf und drückte alles mit einem Stück Holz platt. Nächster Schritt: Warten. Geduld gehört dazu, sagt Ernst Rieger, der Grand Seigneur der Wildblumensaatgutvermehrung, in dessen Firma die Samen für meine Prise gemischt worden waren. Und diesen Merksatz habe ich auch von ihm: „Man muss den Blumen guten Morgen sagen und guten Abend.“
Genau. Mit den Blumen reden, das hab ich früher schon gemacht, und jetzt bei den Wilden erst recht: Jeden Morgen habe ich geschaut, ob die Keimblätter schon einen Millimeter dicker und größer waren. Weil meine Freunde und Gartenhelfer Familie Eichhörnchen, nicht drin rumbuddeln sollten, deckte ich das Ganze mit Hasendraht ab – und lachte mich scheckig, als eines morgens Mama Eichhörnchen unterm Draht herumpruschelte.
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Im Wildrausch
Vor dem Aussäen hatten wir ausgerechnet, wie viele Samen unsere Kästen wohl vertragen würden. Mehr als eine Prise aus dem Päckchen mit 45 Arten war substratmäßig nicht drin. Welche ich da nun zwischen die Finger und in die Erde gekriegt habe??! Keine Ahnung – eine kleine Wundertüte! Beim Warten spukten mir neue Pläne durch den Kopf. Anregungen aus dem Interview mit Reinhard Witt, plus der Blumenliste, die Ernst Rieger für Fledermäuse und Nachtfalter ausgegeben hatte. Ich dachte: Möchte ich auch haben – darunter etwa Nachtkerze oder weiße Lichtnelke. Im April bin ich zur nächstliegenden Wildstaudengärtnerei nach Hattersheim gefahren. Ich war ein bisschen zu früh dran, es waren noch nicht viele Wildstauden im Verkauf. So habe ich nur die Pfirsichblättrige Glockenblume (Campanula persicifolia) und die Küchenschelle mitgenommen.
Zum Glück waren Nachtkerzensamen auch Teil der Wildblütenmischung, sie sind allerdings zweijährige Pflanzen. Im Herbst habe ich kapiert, dass aus den langsam wachsenden und mir unbekannten Rosetten 2024 Nachtkerzen werden wollen!
Wundertüte – was wächst denn da?
In Sachen Schönheit müssen sich die Wilden, wie die rundblättrige Glockenblume, Felsensteinkraut oder Moschusmalve nicht verstecken. Manchmal entdeckte ich sogar im Dunkeln Neues. Als es heiß war und Abkühlung nur nachts auf dem Balkon zu finden, sah ich auf einmal: Da blüht eine kleine Lichtnelke! Ganz vorne im Kasten, halb so groß wie meine Hand. Hatte mich schon gewundert über die bauchigen Blütenhüllen, über denen nie eine Blüte zu sehen war. Nachts also gings da ab. Wie der Name sagt: Silene nocturnis!
Gleichzeitig wollte in einem anderen Kasten jemand ganz hoch hinaus. Pfiff auf Substratmenge, Standort und ähnliches Gedöns und schwang sich empor. Wer war sie? Bisschen bocksbartmäßig, stark, aber doch aber fein behaart. Mit Mal trieb sie eine Blütenknospe! Länglich spitz zulaufend. Bocksbart war doch derber, oder? Dann prügelte ein Sturm uns durch. Oh weh! Die gesäten Wilden hingen durcheinander. Sind in meinen Kästen im 5. Stock halt zarter als auf Feld oder Wiese. Also schnell her mit den Ahornwurzelstielen, die ich für solche Fälle aufbewahre, und den verkleideten Bocksbart gestützt. Die Ausgebuddelten und Vorgezogenen dagegen haute so leicht nichts um – die Glockenblumen etwa hielten tapfer gegen, die breitblättrige Lichtnelke auch.
Noch dreimal schlafen und sie blüht
Nach dem Sturm fragte ich die App Flora incognita, nach der Hochstrebenden. Die Antwort kam ohne Zögern: Kornrade, 99 Prozent. Wow. Vorher nie gesehen. Ich vermerkte sie sofort auf meiner mittlerweile auf rund 55 Arten angewachsenen Balkonpflanzenliste. Noch dreimal schlafen, dann blühte sie. Endlich. Endzückend! Als ihr neuer Fan fand ich schade, dass in meiner Prise Saatgut, nur ein Kornradenkörnchen drin war. Ich lunste zum Balkon von Nachbarin Helene, zwei Stock tiefer, der ich ein TGTA-Tütchen geschenkt hatte. Bei ihr waren zwei Konrädchen aufgegangen. Noch sehr klein. Aber sie hatte auch später gesät – und ihr Substrat eher ackerig gehalten.
Von Null auf 55 – die Pflanzenliste
Wenn ich zurückblicke, fällt mir ein: Am Anfang, beim Einzug vor 34 Jahren, war hier noch kein Grün nirgends. Der gesamte Gebäudekomplex ein Neubau und noch recht unbelebt. Schaute man vom Balkon runter sah man auf spitzige Schösslinge, die mal eine Hecke werden sollten. Kurz: Ein echt urbaner Ausblick. Fledermäuse, Mäuse und Eichhörnchen, Tauben, Gartenbaumläufer, Rotschwänzchen, Taubenschwänzchen, Wespen, Rosenkäfer, Falter, Wanzen, Wildbienen – sie alle kamen erst viel später. Die Bienenfangende Knotenwespe hat in den von fortgeschrittenen Naturgärtnern geschmähten Geranien ihre Nester angelegt. Letzten Sommer habe ich sie erstmals beobachten können, wie sie Löcher grub und Proviant für ihren Nachwuchs hineinschaffte.
Apropos Beobachtungen: Ein Highlight war die Häutung einer Langfühlerschrecke am Rosmarin. Ein anderes der Anflug der Glockenblumen-Scherenbiene. Nur wegen ihr hatte ich die Pfirsichblättrige Glockenblume erstanden. Es war unfassbar: Sie kam sofort angeflogen, als sich die blauen Blüten öffneten. Während deren Blühpause nahm die Spezialistin mit der Moschusmalve vorlieb – ganz nach Lehrbuch. Schließlich ergatterte ich noch eine Flockenblume und stellte sie auf den Tisch, was sofort wieder andere Wildbienen anzog.
Blog Meise&Meise
Hier berichtet Sylvia Meise über ihren Balkon und das, was sie bewegt.
www.meiseundmeise-blog.de
Was wure gesät und gepflanzt?
Samentüte: Initiative „Tausend Gärten Tausend Arten“ (TGTA) Wildblüten für Garten und Balkon, Saatgutmischung echt heimischer Wildpflanzen Herkunftsregion: Deutschland West www.tausende-gaerten.de / Direkt zur Artenliste
Wildstauden: Demeter-Schlockerhof, Hattersheim und Gärtnerei Klumpen, Frankfurt
Artenliste (verschenkte Pflanzen sind durchgestrichen)